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Das Lächeln meiner Mutter / Delphine de Vigan

Eines Morgens stand ich auf und dachte, ich müsse schreiben, selbst wenn ich mich dazu auf einem Stuhl festbinden müsste, und ich müsste weitersuchen, selbst in der Gewissheit, dass ich nie die Antwort finden würde. Dieses Buch wäre vielleicht genau das, der Bericht über diese Suche, der sein eigenes Entstehen enthält, seine erzählerischen Irrwege, steckengebliebenen Versuche. Aber es wäre dieser zögernde, unvollenedte Impuls von mir hin zu ihr. (S. 41)

Die französische Autorin Delphine de Vigan (auf Jargsblog: No und ich) findet eines Morgens ihre 61jährige Mutter tot in deren Wohnung. Schnell wird klar, dass diese sich das Leben genommen hat. Die Schriftstellerin geht zunächst wie betäubt ihren Verrichtungen nach, nimmt ohne bewusste Erinnerung den Prix des Libraires entgegen, schreibt ihr aktuelles Buch zuende. Doch dann fragt ihr neunjähriger Sohn sie unvermittelt, warum die Großmutter sich umgebracht hat. Damit nennt er die Dinge beim Namen, verstört Vigan zunächst und bringt sie mittelbar auf den Gedanken, über ihre Mutter zu schreiben.

Mit dieser Intention beginnt für Vigan ein quälender Prozess: sie recherchiert, befragt die Geschwister ihrer Mutter, andere Familieangehörige und auch ihre Schwester. Sie liest Tagebücher, Aufzeichnungen, ärtzliche Atteste und Polizeiprotokolle, hört Kassetten und betrachtet alte Fotos. Dabei fragt sie sich immer wieder neu, ob sie das Recht hat, über das Leben ihrer Mutter und damit auch über ihre Familie zu schreiben. Als sie sich eine in den späten 1960er Jahren im Fernsehen ausgetrahlte Reportage über ihre Familie ansieht und dabei auch Aufnahmen ihrer damals noch jungen Mutter sieht, kommen ihr tiefe Zweifel:

Ich bin das Produkt dieses Mythos und habe in gewisser Weise die Aufgabe, ihn aufrechtzuerhalten und fortzsetzen, damit meine Familie weiterlebt und auch die etwas absurde, verzweifelte Phantasie, die uns eigen ist. Dennoch, als ich diese Reportage abspielte und sie alle sah, so schön, so begabt, so sehr voneinander verschieden und doch gleichermaßen charismatisch, dachte ich: welche Vergeudung. […] Habe ich das Recht zu schreiben, dass meine Mutter und ihre Geschwister alle zu diesem oder jenem Augenblick in ihrem Leben (oder ihr ganzes Leben lang) verletzt, beschädigt und aus dem Gleichgewicht geworfen wurden, dass sie alle zu diesem oder jenem Augenblick in ihrem Leben (oder ihr ganzes Leben lang) sehr an diesem Leben litten und dass sie ihre Kindheit, ihre Geschichte, ihre Eltern, ihre Familie wie ein Brandzeichen trugen? (S. 154)

Sie beginnt, ausgehend von dem wenigen, was sie weiß und mit Hilfe der Familie zusammengetragen hat, in die Lebensgeschichte Luciles einzutauchen, berichtet über Luciles Eltern (ihre Großeltern) Liane und Georges, die vielen Kinder, die über einen Zeitraum von fast zwanzig Jahren zur Welt kommen, den Unfalltod des kleinen Antonin, das Adoptivkind Jean-Marc, das ebenfalls früh sterben wird, den kleinen Tom, das letzte von 11 Kindern, das mit Trisomie 21 zur Welt kommt. Lucile war ein schönes Kind, wurde früh für Modeaufnahmen gebucht, zeigte sich aber oft verschlossen und mit tiefer Zurückhaltung. Sie heiratet früh, trennt sich aber nach dem zweiten Kind von ihrem Mann. Stets scheint sie auf der Suche zu sein, bis ihr Leben plötzlich kippt, als sich 1980 ihre innere Unruhe in einer bipolaren Störung manifestiert, die fast zur Katastrophe führt und ihr Leben und das ihrer Kinder für immer verändert:

Hier würden wir einige Jahre lang wohnen. Wir wussten nicht, wie sehr unser Leben gekippt war.[…]Der 31. Januar 1980 ist für mich eine Art Ur-Bruch, einer der Brüche, die eine intakte, im Körper vorhandene Erinnerung zu hinterlassen scheinen, von denen man weiß, dass sie nie ganz verschwinden werden, genauso wenig wie der Schmerz, der mit ihnen verbunden ist. Später wird die Angst mit dem Körper verschmelzen, in seinem Blut mitfließen, sich verdünnen und sein Funktionieren mitbestimmen. (S. 234-235)

Delphine forscht weiter, versucht dem Grund für den Schmerz ihrer Mutter, ihren immer wieder von manisch-depressiven Schüben unterbrochenen Lebensweg zu erforschen. Dabei steigt sie tief in die Geschichte der Großfamilie ein, ihrer Feste, ihrer Urlaube, ihrer Obsessionen und Begabungen, ihrer Lebensfreude und Lebensverzweiflung, ihrer hellen, aber auch ihrer dunklen, ja bedrohlichen Seiten. Immer wieder stellt sie sich dabei die Frage nach dem Sinn ihrer Suche und weiss doch zugleich, dass sie nicht aufhören kann, da das schmerzvolle, wechselhafte Leben ihrer Mutter auch ihr Leben stark beeinflußt hat und dieser Einfluss auch in der gegenwart noch ihr Handeln und Denken prägt:

Im Grund weiß ich nicht, welchen Sinn diese Suche hat, was von den Stunden übrigbleiben wird, in denen ich Kartons durchwühle, vom Alter ausgeleierte Kassetten gehört, Behördenbriefe, Polizeiprotokolle und medizinisch-psychologische Berchte, leidgesättigte Texte gelesen und wieder gelesen, Quellen, Äußerungen und Fotografien verglichen habe.
Ich weiss nicht, woran das liegt. Doch je weiter ich vorankomme, desto mehr wächst meine innere Überzeugung, dass ich es tun musste, nicht um jemanden zu rehabilitieren oder zu ehren, nicht um etwas, wie auch immer, zu beweisen, wiederherzustellen, zu enthüllen oder zu reparieren, nein, nur um mich anzunähern. Sowohl meinetwegen als auch meiner Kinder wegen – die, auch wenn ich es nicht will, vom Widerhall der Ängste und des Kummers belastet werden -, wollte ich zum Ursprung der Dinge zurückkehren.
Und dass von dieser Suche, so vergeblich sie auch sein mag, eine Spur bleibt. (S. 259)

Dabei entdeckt sie, befördert durch Gespräche mit einer Freundin ihrer Mutter, auch die schattenhaften Seiten ihres Großvaters, eines charismatischen, redegewandten Mannes. Obwohl es rästelhaft bleibt, was genau geschehen ist, kommen nach und nach auch die Charakterzüge, die inneren und äußeren Widersprüche der einzelnen Familienmitglieder zutage. Indem sie versucht, Luciles Geschichte zu schreiben, bricht sie aber in einem schmerzhaften Prozess auch die eigenen Mauern auf.

Was immer ich behaupte und wie sehr ich auch großtue, es ist schmerzhaft, wieder in diese Erinnerungen einzutauchen, wieder an die Oberfläche zu holen, was verdünnt, weggewischt, bedeckt war. Je weiter ich vorankomme, desto stärker spüre ich die Auswirkungen des Schreibens (und der damit verbundenen Recherchen), ich kann den wichtigen Störfaktor, den es für mich bedeutet, nicht übersehen. Das Schreiben entblößt ich, zerstört meine Schutzwälle einen nach dem anderen, löst stillschweigend meinen eigenen Sicherheitsbereich auf. (S.305)

Klug reflektiert Vigan immer wieder über den Sinn ihres Schreibens, ja des Schreibens überhaupt, wobei deutlich wird, dass die im Schreiben gefundene Wahrheit ihre Wahrheit ist und nicht mit der der anderen Familienmitglieder zwingend übereinstimmen kann und muss.

Beim Schreiben ist die Zuordnung das, was die Montage beim Bild ist. Durch die Art, wie ich meine Sätze schreibe und nebeneinander stelle, gebe ich meine Wahrheit zu erkennen. Sie gehört nur mir. (S. 219)

Letztlich sieht sie aber durch das Schreiben nicht vollends die urspüngliche Hoffnung erfüllt, dem Leben und Fühlen ihrer Mutter wirklich näher zu kommen. Näher kommt sie jedoch dem Schmerz, den eigenen Erfahrungen, die damit verbunden sind: ihre Empfindungen als erwachsene Frau korrelieren dabei tief mit der Verstörtheit der 14jährigen, die ihr Leben durch die psychschen Krisen ihrer Mutter auf den Kopf gestellt sieht.

Ich hatte gehofft, das Schreiben würde mir zu hören geben, was mir entgangen war, dieses für normale Ohren unverständlichen Ultraschalltöne, als könnten mir das stundenlange Wühlen in Kartons oder das Sitzen am Computer endlich ein besonderes, sensibleres Gehör schenken, wie es manche Tiere und, glaube ich, Hunde besitzen. Ich bin mir nicht sicher, dass mir das Schreiben ermöglichen wird, über eine Feststellung des Scheiterns hinauszugehen. Die Schwierigkeit, die ich empfinde, wenn ich von Lucile erzähle, ist der Verstörung, die wir als Kinder und Jugendliche empfanden, wenn Lucile verschwand, gar nicht so unähnlich. (S. 307)

Eindrucksvoll beschreibt sie am Ende des Buches, in dem sie das Panorama einer französischen Großfamilie in den 1950er bis 1970er Jahren ausbreitet, ihre Gedanken, als sie auf dem Weg zu ihrer Mutter ist, nicht wissend, dass diese seit mehreren Tagen tot ist und ihr klar wird, das nichts einfacher ist, wenn aus dem Mädchen, der Tochter eine Frau geworden ist:

Ich dachte, dass das Erwachsensein nicht gegen den Schmerz wappnete, dem ich entgegen ging, dass es nicht einfacher war als früher, als wir Kinder waren, und wenn man nun doch erwachsengeworden war und eine eigene Familie hatte, es half alles nichts, daher kamen wir, von dieser Frau; ihr Schmerz würde uns nie fremd sein. (S. 366)

Delphine de Vigan hat mich bereits mit dem eingangs erwähnten Buch sehr beeidnruckt. Mit „Das Lächeln meiner Mutter“ (Originaltitel: „Rien ne sòppose à la nuit“) legt sie ein zutiefst berührendes Buch über ihre Familiengeschichte vor, zentral ausgerichtet an ihrer Mutter Lucile und den eigenen Gedanken und Gefühlen einer erwachsenen Frau, die versucht zu verstehen und doch erkennen muss, dass wir Menschen einander letztlich zutiefst fremd bleiben.

Bücher über die eigene Familiengeschichte zu schreiben – ob in romanhafter oder sachlich-biografischer Form – birgt immer die Gefahr, sich in selbstquälerischer Attitüde zu verfangen oder in einer grandiosen Anklage zu erstarren. „Das Lächeln meiner Mutter“ umschifft diese Klippen geradezu meisterhaft: trotz der düsteren Seiten ihrer durchaus faszinierenden, ja schillernden Familiengeschichte versucht Vigan nicht, Opfer- und Täterrollen zuzuschreiben und wirft so ein zwar ausdrücklich subjektives, aber sehr einfühlsames Buch über ihre Mutter, andere Protagonisten der Familiengeschichte und nicht zuletzt über ihre eigene Sozialisation.

Am deutlichsten wird das am Beispiel ihres Großvaters Georges, der den eigenen, von Trisomie 21 betroffenen Sohn über alle Maßen fördert und unterstützt, zugleich aber auch für Vigan überraschend die dunkle Seite eines Mannes in sich verbarg, der unter Umständen den eigenen Töchtern nachstellte: Vigan bleibt auch hier nicht in der Anklage stecken, sondern versucht mit der Darstellung eines Menschen in seinem Widerspruch, mit seinen hellen und seinen verachtenswerten Seiten, dem längst verstorbenen und damit zu keiner Auskunft oder Rechtfertigung mehr fähigen Familienmitglied gerecht zu werden.

Vigan nähert sich ihrer Familiengeschichte und der im Zentrum des Buches stehenden Geschichte ihrer Mutter auf ebenso einfühlsame wie beeindruckende Weise: das als Roman gekennzeichnete Buch wechselt zwischen der erzählenden Perspektive, in der zumeist Lucilles aus Erinnerungen, Gesprächen und Dokumenten rekonstruiertes Leben im Mittelpunkt steht, und den Reflexionen Delphine de Vigans über die Recherche, den Schreibprozess und ihre Motivationen, verbunden mit eigenen, schmerzhaften Erinnerungen. Ihr Buch ist dabei nicht nur der romanhafte Versuch einer Rekonstruktion: deutlich wird auch, wie trügerisch und wiedersprüchlich Erinnerungen sein können und wie sehr unsere eigenen Erlebnisse im Laufe unseres Lebens die Vergangenheit umformen. Ausgesprochen stark hat sie dabei herausgearbeitet, wie wesentlich das, was Kinder und Jugendliche erleben, später den eigenen Lebensweg und damit auch den nacholgender Generationen beeinflusst: wir können unserer Geschichte nicht entfliehen und tun gut daran, sie so gut als möglich zu kennen, unsere eigenen Schlüsse daraus zu ziehen, um etwa unsere Ängste, Sorgen und Hoffnungen bezüglich der eigenen Kinder oder Menschen, die uns ans Herz gewachsen sind, besser verstehen und damit umgehen zu können.

Delphine de Vigans Buch und die besondere Atmosphäre, die sie darin zu erzeugen versteht, wirkt lange nach, bewegt tief und leitet den Blick über diese besondere Familiengeschichte zu den eigenen Spiegeln, in denen wir unsere Biografie oder das, was uns davon in den Zerrbildern der Vergangenheit erkennbar bleibt, zu erblicken versuchen, um eine vage Ahnung davon zu bekommen, wer wir waren, wer wir sind und was wir sein könnten. Es reicht damit weit über übliche Biografien und Erfahrungsberichte hinaus und lässt die Erlebnisse und Nachforschungen der Autorin zu großer Literatur gerinnen.

Für mich war das Buch eines der intensivsten Lektüreerlebnisse der vergangenen Monate und wird eines jener Bücher sein, die mir lange im Gedächtnis bleiben werden.

13 Kommentare zu “Das Lächeln meiner Mutter / Delphine de Vigan

  1. Pingback: Sonntagsleserin Januar 2015 | buchpost

    • Das Buch ist auch optisch sehr gelungen, das stimmt. Wenn man die Geschichte gelesen hat, erscheint einem das Titelbild nochmal passender. Und ja, wäre bestimmt ein schönes Bild für die Wand!

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  2. …Delphine de Vigan scheint eine hoch interessante Autorin zu sein, mit einer ebenso anrührenden Familiengeschichte, danke für die Eindrücke. Oh je, ich sehe schon wohin mich das Lesen deines Blogs führt – zu einer sich rasant verlängernden Buchleseliste 😉 nun gut, so sei es!

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    • Lesenswert ist sie ganz sicher, Mrs. Belcani, auch wenn noch nicht alle ihrer Werke ins Deutsche übersetzt sind.
      Und es freut mich, dass auf meinem Blog offenbar noch ein paar andere Lesetipps für Dich bereithält: sei versichert: auch meine Buchleseliste verlängert sich beständig – und ein Ende ist nicht abzusehen. Leider und zum Glück zugleich.
      Herzlich grüsst Dich
      Jarg

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    • Liebe Maren,
      danke für das Kompliment. Dann hoffe ich, dass ich nicht zu hohe Erwartungen geweckt habe und wünsche Dir eine ebenso intensive, bereichernde Lektüre!
      Herzlich grüsst
      Jarg

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